Die Chronobiologie wirkt effektiv durch die optimale Substanz, die exakt notwendige Dosis, das neue Verständnis der komplexen Zusammenhänge und den zündenden Zeitpunkt. Das sind die wichtigsten Kriterien für den durch zeitlich perfekte Darreichung erzielten Effekt: Was wirkt am besten morgens? Was braucht der Körper abends? Welche Stoffe fördern untereinander ihre Wirkung? Welche bremsen oder verfälschen den erhofften Effekt?
Heute wissen wir bereits: Viele der weitverbreiteten und durchaus erfolgreichen Therapien können weiter optimiert werden. Vielleicht haben viele Substanzen bisher das angesteuerte Zielorgan noch nicht zur richtigen Tageszeit oder nicht in einer idealen Darreichungsform erreicht. Präparate auf der Basis der Chronotherapie berücksichtigen die Wirkung therapeutischer Einflüsse im Einklang mit der inneren Uhr.
Alles hat seine Zeit, auch Krankheit und Heilung
Äußerliche und interne Zeitgeber regulieren ganz ohne unser Zutun die körperlichen, geistigen und emotionalen Funktionen. Je intelligenter wir uns an diesen Rhythmen ausrichten, umso mehr Nutzen ziehen wir daraus.
Ob Mundschleimhaut oder Leber – jedes physiologische System hat seinen eigenen biologischen Rhythmus. Von besonderer Bedeutung ist dieses Wissen bei Fragen über Krankheit und Heilung, denn auch jedes Leiden wie z. B. Asthma, Arthritis, Bluthochdruck, Depression, Herzinfarkt, Magengeschwüre, Schlafprobleme, Stoffwechselstörungen des Gehirns usw. hat seine Phasen. Daraus leiten sich wichtige Schlussfolgerungen ab: Für die Vorbeugung, aber auch in der Behandlung ist der chronobiologische Faktor der eingesetzten Wirkstoffe von größter Bedeutung. Sicherlich erahnen wir erst einen Bruchteil ihrer Geheimnisse, doch eine Reihe wichtiger Substanzen steht bereits in chronobiologisch sinnvoller Formel zur Verfügung, wissenschaftlich getestet und abgesichert. Chronobiologen wurden anfangs ausgelacht. Heute ist ihre Wissenschaft die anerkannte Erforschung von Zusammenhängen zwischen Körper, Geist und Zeit. Machen Sie sich auf Überraschungen gefasst!
Die wichtigste Erkenntnis in chronobiologischer Hinsicht: Wir besitzen ein ganzes Steuerpaket aus genetisch festgelegten inneren Zeitgebern. Unser Körper hat einen eingebauten 24-Stunden-Zyklus. Wirklich schicksalhaft ist die Abhängigkeit der Hormonausschüttung von den Impulsen der inneren Uhren.
Unter der Vorherrschaft des Gehirns informieren rund 150 Botenstoffe im Blut unsere Organe über die aktuelle Lage und verordnen entsprechende Konsequenzen. Diese Hormone geben Gas und bremsen. Im Schlaf sinkt die Körpertemperatur, mit dem Erwachen steigt der Blutdruck – usw. Diese Rhythmen wiederholen sich rund um die Uhr, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Die wissenschaftliche Bezeichnung lautet deshalb „circadian“ und setzt sich aus den lateinischen Begriffen für «herum» und «Tag» zusammen. Der kürzeste „Auf und Ab“-Zyklus wird bei den Gehirnströmen gemessen: Bruchteile von Milli-Sekunden. Die längsten Tagesrhythmen – z.B. Hunger oder das Bedürfnis nach Schlaf – erstrecken sich über Stunden.
Die Chronobiologie formt in jedem einzelnen Augenblick das Geschehen innerhalb unseres Organismus zu einem unverwechselbaren Schauspiel. Nichts ist eine Stunde später genauso wie es eine Stunde zuvor war. Offensichtlich laufen mit zunehmendem Alter manche inneren Uhren langsamer und andere schneller. Sie geraten aus dem Takt und einige fallen mit den Jahren mehr und mehr aus. Organe entwickeln ein Eigenleben und Störungen treten auf. Bleiben sie unbehandelt, können Krankheiten entstehen.
Die Wissenschaft unterscheidet allein rund 80 Leiden, die als schlafbezogen gelten. Die Chronopharmakologie verfolgt genau dieses Ziel: das richtige Präparat zur richtigen Zeit. Aktuelles Bestreben ist, bei immer mehr Krankheiten oder Fehlfunktionen des Körpers eine tageszeitliche Komponente zu finden. Daraus ergeben sich verblüffende Behandlungsmöglichkeiten – auf den Punkt genau, effektiver und mit weniger Nebenwirkungen. Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel auf Basis der Chronobiologie stellen unsere Zeitgeber neu ein.
Licht und Dunkelheit steuern die Funktion der Organe
Der Licht-Dunkelheits-Faktor korrigiert die Funktionen des Tages immer wieder auf einen 24-Stunden-Takt. Seine Information wird in unserem Körper in das Signalhormon Melatonin umgewandelt. Es erfüllt immens viele Aufgaben, auch schon während des Tages. Gegen 23 Uhr schnellt normalerweise der Melatoninpegel plötzlich auf das Acht- bis Zehnfache nach oben! Ein Signal für viele Organe, Aktivitäten herunterzufahren und zu regenerieren. Ältere Menschen haben jedoch den nächtlichen Melatonin-Anstieg weitgehend verloren. Zahlreiche Rhythmen – z. B. Schlaf, Blutdruck, Körpertemperatur, Hormone – bleiben unter diesen Umständen ohne Steuerung. Abhilfe schafft eine chronobiologisch intelligente Unterstützung. Spannende aktuelle Studien liefern wertvolle Ergebnisse. So beginnen Forscher zu erkennen, zu welcher Stunde sich Krebszellen teilen. Sie gehorchen anderen Zeitgebern als gesunde Zellen.
Deshalb kommt es darauf an, therapeutische Zellgifte genau dann im Zielorgan einzusetzen, wenn ihr Einfluss auf das Tumorwachstum am größten ist und die übrigen Zellen weniger belastet werden. Chronopharmakologie, die Suche nach der Harmonie zwischen therapeutischen Maßnahmen und den inneren Uhren, stellt derzeit das faszinierendste Feld der medizinischen Forschung dar. Allmählich gelingt es uns, immer mehr Krankheiten als Störungen von Rhythmen zu begreifen. Das ist der erste Schritt, chronobiologische Grundsätze bei der Heilung zu berücksichtigen.
Die Intelligenz der inneren Uhren
Jede einzelne Zelle bildet ganz bestimmte Substanzen, etwa die Bausteine der Aminosäuren. Ist das gewünschte Maß an Konzentration erreicht, wird die Produktion gestoppt. Enzyme bauen innerhalb von Stunden die Substanzen wieder ab. Der Zyklus beginnt von Neuem. Als Ein-Aus-Schalter für diese Vorgänge fungieren gewisse Gene, auch «clock genes» (Uhr-Gene) genannt. Sie lassen sich in fast jedem menschlichen Gewebe nachweisen. Was sie bewirken, ist unvorstellbar vielfältig, kompliziert und intelligent.
Überall im Körper nehmen Rezeptoren die Informationen der Botenstoffe und Nervenreize entgegen. Ihre Empfindlichkeit wird von den Uhr-Genen gesteuert. Also einfach gesagt: eingeschaltet, ausgeschaltet. Das gilt ebenso für die Wirkung von Vitaminen, Spurenelementen und anderen biologisch effektiven Substanzen! Auch für Medikamente! Den Hauptschalter bildet eine zweiteilige Zentrale im Zwischengehirn. Sie empfängt Nachrichten besonderer Fotozellen der Netzhaut. Diese erst vor kurzem entschlüsselten Sensoren erkennen nicht irgendwelche Gegenstände oder Farben – sie erfassen die Tageszeit, nehmen Stimmungen der Umwelt wahr und registrieren die Jahreszeit. Sie sind der Startpunkt eines Wirkmechanismus, der in seiner Gesamtheit als Hauptstellwerk aller inneren Uhren bezeichnet werden kann. Diese Zentrale überträgt den Tag-Nacht-Wechsel von außen auf unzählige Rhythmen in unserem Körper und stimmt sie gleichzeitig aufeinander und untereinander ab. Licht ist ein machtvoller Taktgeber. Das Überleben nach einem Herzinfarkt kann davon abhängen, ob durch die Fenster der Intensivstation Sonnenschein dringt. Betten in einem Nordtrakt weisen hingegen einen mysteriösen Zusammenhang mit einer höheren Todesrate auf.