Schlafentzug wurde in zahlreichen Studien mit einer Vielzahl von negativen kognitiven Auswirkungen in Verbindung gebracht, u.a. mit Müdigkeit, schlechten Entscheidungen und dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Eine neue Studie im Bereich der Chronobiologie hat Forscher jedoch überrascht, da sie nahelegt, dass Schlafentzug tatsächlich eine Verbesserung des Langzeitgedächtnisses bewirken kann. Dieser kontraintuitive Effekt kommt von der Wirkung eines Moleküls namens IGF-2, das während Unterbrechungen des circadianen Rhythmus hergestellt wird.
IGF-2 und das Gedächtnis
IGF-2, das für insulin-like growth factor 2 (zu Deutsch: insulinähnlicher Wachstumsfaktor 2) steht, ist ein Molekül, das dem Insulin ähnlich ist, und viele verschiedene Wirkungen auf die Zellen hat. Es regt das Zellwachstum und die Proliferation an, weshalb es vor allem bei Föten äußerst aktiv ist. Die Produktion dieser Biochemikalie nimmt bei der Geburt stark ab, und geht dann über die Lebensspanne hinweg gleichmäßig zurück.
Aktuelle Studien haben herausgefunden, dass IGF-2 nicht nur ein Faktor für Wachstum und Entwicklung, sondern vor allem für das Gedächtnis wichtig ist. Ratten, denen IGF-2 in den Hippocampus des Gehirns eingespritzt wurde, ein Bereich, der mit dem Erinnerungsvermögen assoziiert wird, konnten sich über eine längere Zeit hinweg Erinnerungen wieder ins Gedächtnis rufen. IGF-2 wird nun als mögliche Behandlung bei Alzheimer, Parkinson und weiteren Krankheiten getestet, die einen Gedächtnisverlust verursachen.
Die Auswirkungen von Schlafenzug auf IGF-2
Schlaf ist für die Bildung und Festigung von Erinnerungen wichtig. Wenn wir die erste Schlafphase durchlaufen, werden der Hippocampus und der präfrontale Cortex des Gehirns aktiv. Diese Bereiche entscheiden, welche Informationen gespeichert und welche gelöscht werden, eine Aufgabe, die das Verschieben von einigen Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis umfasst.
In einer aktuellen Studie zeigten Mäuse, die chronisch unregelmäßigen Schlaf-Wach-Zyklen ausgesetzt waren, eine erhöhte Produktion von IGF-2, was vermutlich deshalb geschieht, um Zellen davor zu schützen, durch Schlafentzug geschädigt zu werden. Dieser Anstieg in IGF-2 hatte einen überraschenden Effekt: Diese Mäuse erzielten eine Verbesserung des Langzeitgedächtnisses, was sofort beobachtet werden konnte. Das widerspricht dem, was Wissenschaftler der circadianen Biologie zuvor über die Auswirkungen von Schlafentzug auf das Gedächtnis vermuteten.
Als die Forscher Mäusen ohne unregelmäßigen Schlafzyklen zusätzliches IGF-2 verabreichten, wurde der gleiche Anstieg beim Erinnerungsvermögen beobachtet. Auch wenn Schlafentzug über die IGF-2-Produktion indirekt zu einer verbesserten Gedächtnisleistung führen kann, hat er dennoch keine direkte positive Wirkung.
Kann Schlafmangel Ihr Gedächtnis verbessern?
Auch wenn diese Untersuchung nahe legt, dass unregelmäßige Schlafzyklen für das Gedächtnis gut sein könnten, gibt es dennoch einen Nachteil: Mäuse, die über längere Zeit hinweg unregelmäßigem Schlaf ausgesetzt waren, wiesen Rückentwicklungen des Gehirns und generell einen Verlust des Langzeitgedächtnisses auf, was vermutlich von den Auswirkungen des gestörten circadianen Rhythmus, bzw. der inneren 24-Stunden Uhr, verursacht wurde. Während Schlafentzug für kurze Zeit eine Verbesserung des Langzeitgedächtnisses bewirken kann, wird er über lange Zeit schädliche Auswirkungen auf das Gedächtnis und andere kognitive Funktionen haben. Zudem mussten Mäuse, die unregelmäßige Schlaf-Wach-Zyklen hatten, am Tag ein Nickerchen halten, vor allem dann, wenn sie sich körperlich anstrengten.
Wissenschaftler im Bereich der Chronobiologie sind sich nicht sicher, ob diese langzeitlichen Auswirkungen aufgrund des Schlafentzugs entstehen oder aufgrund der erhöhten IGF-2-Werte. Neue Studien erforschen dies bereits, da IGF-2 als Behandlungsmethode für eine Vielzahl von neurodegenerativen Erkrankungen getestet wird, die mit dem Verlust des Langzeitgedächtnisses in Verbindung gebracht werden. Für den Moment wird IGF-2 als vielversprechende, aber möglicherweise schädliche Behandlungsmethode bei Gedächtnisverlust angesehen.
Obwohl die Einnahme von IGF-2-Ergänzungsmitteln zurzeit keine gute Idee ist, ist die Entdeckung ihrer Auswirkungen auf das Gedächtnis dennoch wichtig. Untersuchungen der circadianen Biologie, die Gene und Moleküle bestimmen, die beim Schlaf und Gedächtnis involviert sind, werden zu einem größeren Wissen über das menschliche Gehirn führen. Dadurch kann es zu einer besseren Behandlungen zahlreicher Erkrankungen kommen.