Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Essstörung Anorexia nervosa (Magersucht) im Gegensatz zu vielen anderen Störungen, die tendenziell abends auftreten, wie Depressionen, Binge-Eating-Störung und Schizophrenie, eher mit Frühaufstehern einhergeht. Die Studie, die in JAMA Network Open veröffentlicht und von Forschern des Massachusetts General Hospital (MGH) in Zusammenarbeit mit dem University College London und der University of the Republic in Uruguay geleitet wurde, zeigt auch einen Zusammenhang zwischen Anorexia nervosa und dem Risiko für Schlaflosigkeit auf.
Essstörungen und die innere Uhr
Essstörungen sind schwerwiegende Erkrankungen, die mit erheblicher Morbidität und Mortalität sowie starkem Leiden einhergehen. Menschen, die an Essstörungen leiden, empfinden oft Scham, Isolation und sind mit Stigmatisierung konfrontiert. Anorexia nervosa ist ein weit verbreitetes Krankheitsbild, das mehr Frauen als Männer betrifft. Betroffene nehmen extrem wenig Nahrung zu sich, was mit der Zeit zu starken körperlichen Mangelerscheinungen und gesundheitlichen Problemen führen kann. Tatächlich ist Magersucht mit der höchsten Sterblichkeits- und Selbstmordrate verbunden. Im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen mit Anorexie aus irgendeinem Grund sterben, im gleichen Zeitraum bis zu 12-mal höher, und die Wahrscheinlichkeit, durch Selbstmord zu sterben, etwa 57-mal höher.
Frühere Forschungsergebnisse deuten auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Essstörungen und der inneren Uhr des Körpers, der circadianen Uhr, hin, die eine Vielzahl biologischer Funktionen wie den Schlaf steuert, und nahezu jedes Organ im Körper beeinflusst. Diese Studie zielte darauf ab, diesen Zusammenhang besser zu verstehen, indem Gene untersucht wurden, die mit Anorexia nervosa, der circadianen Uhr und mehreren Schlafmerkmalen, einschließlich Schlaflosigkeit, assoziiert sind.
Frühaufsteher eher von Magersucht betroffen
Die Forscher verwendeten eine statistische Methode namens Mendelsche Randomisierung, um zu eruieren, wie sich Gene, die mit einem bestimmten Merkmal verbunden sind, auf andere interessierende Merkmale auswirken. Beispielsweise liefert die Untersuchung der Schlafmuster von Menschen mit genetischen Unterschieden, die die Wahrscheinlichkeit einer Magersucht erhöhen, Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Anorexia nervosa und Schlaf. Sie fanden einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen Genen, die mit Anorexia nervosa assoziiert sind, und Genen, die mit dem Morgenchronotyp (frühes Aufwachen und frühes Zubettgehen) zusammenhängen.
Mit anderen Worten: Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Frühaufsteher ein erhöhtes Risiko für Magersucht haben, und dass Anorexia nervosa dazu führen könnte, dass man früher aufsteht. Das Team fand außerdem einen Zusammenhang zwischen Anorexia nervosa und Schlaflosigkeit. Als sie die Verbindung zwischen Schlaflosigkeit mithilfe der Mass General Brigham Biobank weiter untersuchten und einen „genetischen Risiko-Score“ für Anorexia nervosa entwickelten, stellten die Wissenschaftler fest, dass der genetische Risiko-Score tatsächlich mit einem höheren Risiko für Schlaflosigkeit verbunden war.
Diese Ergebnisse deuten laut den Forschern darauf hin, dass Magersucht im Gegensatz zu den meisten anderen abendlichen psychiatrischen Erkrankungen eine morgendliche Störung ist, und unterstützen den Zusammenhang zwischen Anorexia nervosa und Schlaflosigkeit, wie er in früheren Studien beobachtet wurde. Die Behandlungsmöglichkeiten für Anorexia nervosa sind begrenzt, und die aktuellen Behandlungen weisen Rückfallraten von bis zu 52% auf. Zudem ist die Ursache der Erkrankung noch unklar. Da Anorexia nervosa die zweithöchste Sterblichkeitsrate bei psychiatrischen Erkrankungen aufweist, ist dringend mehr Forschung zu neuen Präventionsstrategien und Behandlungen erforderlich. Die aktullen Forschungsergebnisse könnten zukünftige Untersuchungen zu circadianbasierten Therapien einläuten, um Magersucht zu behandeln und vorzubeugen.
Eine besonders vielversprechende psychologische Behandlung ist derzeit die erweiterte kognitive Verhaltenstherapie (Enhanced Cognitive-Behavioral Therapy). Es konnte festgestellt werden, dass eine bemerkenswerte Anzahl jener, die die Behandlung abgeschlossen hatten, ihre Erfolge fünf Jahre nach der Behandlung aufrechterhalten konnten. Der wichtigste Prädiktor für ein positives Ergebnis bei Anorexie ist jedoch die frühzeitige Erkennung und Intervention. Generell gilt: Je länger die Erkrankung bis zur Behandlung dauert, desto schlechter ist die Prognose.